in einer neuen artikelreihe bitten wir fortan handverlesene künstler, wissenschaftler und aktivisten mittels exklusiver fragebogeninterviews, kurz ”eFI”, unseren lesern gedanken und eindrücke zu fragen der zeit mitzuteilen. zum auftakt war rainer hartmann so nett. er ist der sänger der wunderbaren musikformation rainer von vielen – bekannt u.a. durch so famose songs wie tanz deine revolution, kein zurück, plan x, neu definieren oder sandbürger, einer aberwitzigen interpretation von sidos mein block (die in viodeoform sogar in splatterszenen endet^^) und last but not least durch die mitarbeit an dem sensationellen theaterstück mythos der freiheit.
- vor ein, zwei jahren schien es (etwa durch occupy oder zu stuttgart21), dass auch hierzulande eine neue protestkultur heranwächst. indes sind in deutschland im vergleich zu anderen europäischen staaten viele menschen (weiterhin oder wieder) passiv, obgleich alleine beim thema armut über die offiziellen arbeitslosenzahlen hinaus beispielsweise viele leiharbeiter, minijobber, alte und “arbeitsunfähige” direkt betroffen sind. wie schätzen sie generell die ”kraft der strasse” ein? welche protestformen halten sie für sinnvoll, welche weniger? und was denken sie, dass die nächsten ein, zwei jahre tatsächlich passiert?
Die Kraft der Strasse liegt darin, dass Probleme bei Entscheidungsträgern überhaupt erst wahrgenommen werden. Nur in den seltensten Fällen kann dadurch wirklich Druck aufgebaut werden. Trotzdem sind Protestmärsche, Demos und politischer Aktivismus notwendig um Themen in den Fokus zu rücken. Ich verabscheue jegliche Form gewalttätiger Meinungsäusserung. Das führt zu keinem Dialog. Im besten Fall zu Schadensbegrenzung. Ansonsten finde ich Protestformen grossartig, die mit dem Szenario in dem sie stattfinden kreativ interagieren. Flashmobs, Nackter Block oder die Clownsarmee sind unterhaltsame Protest-Phänomene. Auch Occupy als dauerhafter Belagerungszustand, der allein durch seine Präsenz die Themen der Protestierer immer wieder auf den Tisch bringt, halte ich für eine gelungene Ausformung der Protestkultur. Die nächsten Jahre werden sich wie immer anders entwickeln, als erwartet. Und die Themen, gegen die es sich lohnt aufzustehen, werden mehr werden.
- (klassische) medien gelten als vierte macht im staat. auch wenn sich immer mehr menschen andersweitig zu informieren suchen, ist die meinungsbildung durch den öffentlich-rechtlichen und privaten rundfunk sowie der tages- und wochenpresse insg. noch immer ziemlich stark. wie beurteilen sie in der gegenwart die “unabhängigkeit” des
rundfunks und der presse hierzulande, etwa hinsichtlich kriegsberichterstattung, dem umgang mit sozialen themen oder zu dem, was über die vermeintliche rolle deutschlands in sachen sog. “eurokrise” verbreitet wird?
Die öffentlich rechtliche Meinung ist stark selektiv und mit Sicherheit durch politische Strömungen gelenkt. Durch alternative Medien im Internet hat jeder, der interessiert ist, die Möglichkeit an Informationen zu gelangen. Die klassischen Medien verlieren dadurch immer mehr an Macht und Bedeutung. Leider ist auch der Protest der Macht der Medien unterworfen. Wenn ein Thema ausgelutscht ist, verschwindet es von der Bildfläche und somit auch aus unseren Köpfen.
- stichwort bundestagswahl: spd, cdu/csu, fdp und grüne haben in den letzten jahrzehnten auf landes- und bundesebene bereits in fast jeder denkbaren konstellation “zusammengearbeitet”. können sie verstehen, dass viele bürger parteienverdossen sind? und: ohne, dass wir sie jetzt zu einer wahlempfehlung (bzw. zu einem boykottaufruf) nötigen wollen (wobei: sie dürfen natürlich!) – dürfen wir fragen: gehen sie selber noch wählen? wenn ja, wirklich noch aus einem anderen grund als durch fernbleiben nicht indirekt etwaige wahlergebnisse von npd und co. zu stärken? was würde sich ihres erachtens hierzulande ändern, wenn menschen massenhaft die wahl verweigern bzw. gezielt “ungültig” wählen?
Ich selbst gehe zur Wahl, habe dabei zwar das Gefühl, dass sich nicht viel ändert, aber immer noch besser als nicht zur Urne zu schreiten. Wir leben nunmal in einer Demokratie. Bis eine bessere Staatsform gefunden ist, auf die sich alle
einigen können, halte ich einen Wahlboykott für kontraproduktiv. Solange es
Parteien gibt, die ich noch schlechter finde als andere, werde ich das auch weiter praktizieren. Die Verweigerungshaltung würde ich jetzt unverifiziert im linken Spektrum ansiedeln. Daher würde eine massenhafte Wahlverweigerung zu einem Boom der Konservativ- und Rechtsparteien führen. Am System würde sich nichts ändern, da Entscheidungsträger durch das System definiert sind.
- welches thema, welches ereignis hat sie 2013 bisher am meisten bewegt – sei es
im positiven oder im negativen?
Eine Tumor-Diagnose bei meiner Frau. Was sich zum Glück als Fehldiagnose herausgestellt hat.
- würden sie unseren lesern abschließend bitte noch (insgesamt! NICHT jeweils) bis zu 10 spiel-/dokumentarfilme, buchtitel, bestimmte autoren, tv-/internet-bewegtbildformate und oder künstler empfehlen, die sie persönlich (jüngst oder auch schon vor jahren) nachhaltig beeinflusst, inspiriert und oder beflügelt haben?
- “What the Bleep do we know?”, Doku/Spielfim
– “Rettet die Wale”, Gustav (CD)
– “Handbuch für den gewitzten Stadtkrieger”, Der Barfussdoktor
– “Lucky People Center International”, Doku
– “Die Welt ist Klang”, Joachim Ernst Berendt (Hörbuch)
– “Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst”, Thaddeus Golas (Buch)
– “I”, Kid Kopphausen (CD)
– “Mythen der Freiheit”, Theaterstück
lieber rainer – das ZOB dankt ihnen nochmals für ihre antworten!
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